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ART INTERNATIONAL ZURICH 2025
27th Contemporary Art Fair
23-25 May 2025

ART INTERNATIONAL ZURICH 2005


FOTOGRAFIE OHNE KAMERA


LICHT UND SCHATTEN
Text von Prof. Klaus Honnef


Der schwere Wein funkelte rubinrot im Glas und das nächtliche Gewitter tauchte den wilden Garten vor dem Fenster des Hauses am Hang der Kasseler Wilhelmshöhe plötzlich in ein gespenstisches Licht. Betäubende Donnerschläge zerrissen die Stille. Gewitter sind nichts Ungewöhnliches in Nordhessen. Doch dieses eine irgendwann im Jahre 1984 hatte Konsequenzen. Denn es löste einen Geistesblitz aus.

Wie Pallas Athene aus dem Haupt des Göttervaters Zeus kam dem renommierten deutschen Künstler Floris M. Neusüss plötzlich der Einfall, das spektakuläre Schauspiel zur Verwirklichung noch nie gesehener Bilder der Nacht zu nutzen. Dabei sollte die Naturgewalt selbst, in Form eines Blitzes, den Initiator für eine Entwicklung spielen, an deren Ende die Begegnung mit etwas bislang Unsichtbarem stand. Keine spinnerte Geisterwelt, sondern nachprüfbare Bilder. Vielleicht sogar Kunstwerke voller Poesie. Wenig später glückte ein erster Versuch.

Mit seinen Nachtbildern betrat Neusüss, der dem Kontinent der Kunst schon viele Gebiete des zuvor nicht Sichtbaren erschlossen hatte, ein weiteres unbekanntes Territorium. Sein Werkzeug war denkbar einfach. Eigentlich kann man nicht einmal von einem Werkzeug sprechen. Der Künstler benötigte lediglich ein Stück Fotopapier, ein Papier, das mit einer lichtempfindlichen Substanz versehen worden war; weder Pinsel und Farben noch eine Kamera. Entscheidend war die künstlerische Idee. László Moholy-Nagy gab dem Verfahren den Namen Fotogramm.

Mit gewöhnlicher Fotografie hat das Fotogramm nicht mehr gemein als mit der Fotosynthese der Natur. Zwar entsteht ein Fotogramm ebenso wie ein fotografisches Abbild durch Licht, allerdings in direkter Einwirkung. Alles, was man auf eine lichtsensible Schicht aus Papier, Metall, Glas oder Film platziert - Gegenstände, Pflanzen, Hände, ganze Körper - dringt als schemenhafte Spur in diese ein, sobald Licht auf sie fällt. Bevor die Spur verschwindet, muss sie fixiert werden. Linse und Kamera sind überflüssig. Bereits anno 1725 hatte der Arzt Johann Heinrich Schulze entdeckt, dass chemische Verbindungen von Silber auf den Anprall von Licht reagieren. Historiker des Mediums Fotografie charakterisieren das Fotogramm als eine archaische Version der Fotografie.

In ihrer Geschichte spielt das Verfahren nur eine Nebenrolle. Der Grund leuchtet ein. Dem Fotogramm fehlt, was ein fotografisches Kamerabild prägt: die Wiedererkennbarkeit der abgebildeten Motive, die detaillierte und gestochen scharfe Darstellung; kurzum: die "naturgetreue" Schilderung der sichtbaren Welt. Dagegen erscheinen die Motive im Fotogramm wie rätselhafte Geistererscheinungen in einem unbestimmten Raum. Weil das Licht das empfindliche Material schwärzt, und die Spuren von den Gegenständen in Weiß wiedergibt, verstärkt sich das Klima des Geheimnisvollen.

Erst die Künstler der Avantgarde erkannten während und nach dem Ersten Weltkrieg die ästhetischen Möglichkeiten des Fotogramms. Der Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur im Dauerfeuer der Materialschlachten mit Millionen von Opfern hatte sie skeptisch gemacht. Was sie einte, war die Ablehnung überholter Kunstbilder und die Suche nach neuen.

Als künstlerisches Medium war das Fotogramm völlig unverbraucht. Sein automatischer Vollzug entsprach den Vorstellungen der radikalen Künstler. Sie sahen Kunst als eine Sache des Experiments nach naturwissenschaftlichem Vorbild an. Einfach in der Handhabe, barg das Verfahren zudem genügend Sprengkraft, die traditionelle Kunstpraxis herauszufordern. Obendrein öffnete es noch den Blick auf eine unerforschte Wirklichkeit jenseits der greif- und sichtbaren Realität. Im Kielwasser der Dada-Bewegung gelangen Christian Schad (1919) die ersten wichtigen Fotogramme, Man Ray und Moholy-Nagy zogen (1922) - unabhängig voneinander - im Geiste des Surrealismus und Konstruktivismus nach.

Nach dem Untergang des Naziregimes nahm Neusüss gemäß Moholys griffiger Devise einer Produktion (des Sichtbaren) statt seiner Reproduktion den abgerissenen Faden der kameralosen Lichtbildnerei wieder auf und begründete mit seinen Ganzkörperfotogrammen (seit 1960) eine neue Ära. Dank Fortschritten in der Papierherstellung und seiner künstlerischen Neugierde erweiterte er das Spektrum beträchtlich. Er nutzte ganz spezielle, für kommerzielle Reprozwecke verwendete Umkehrpapiere auf Rollen. Sie erlaubten zum ersten Mal die Ablichtung des menschlichen Körpers in voller Lebensgröße und verwandelten dessen Abdruck in einen schwarzen Schatten. Daraus entwickelte er seine fotochemische Malerei. Sie verschmolz Körpermotiv und Bildfläche zur unauflöslichen Einheit und schlug eine Brücke zur zeitgenössischen Gemäldekunst.

Auch die betörend schönen Arbeiten von Karl Martin Holzhäuser stehen der Malerei näher als der Fotografie. Anders als Neusüss betont er in seinen Lichtmalereien jedoch den subjektiven Anteil des Künstlers an der Bildwerdung. Gleichwohl folgt er einem rationalen ästhetischen Konzept. Nach einem festgelegten Programm bewegt Holzhäuser eigens entwickelte Lampen, Lichtgriffel und Lichtpinsel, im völlig abgedunkelten Raum. Allein durch die Bewegung der Hand, des Arms oder des ganzen Körpers erschafft er jene erstaunlichen Strukturen und Gebilde, die in der chemischen Reaktion der Farbfotografie am Ende sichtbar werden. Dem Fotogramm erschloss er das unerschöpfliche Universum der Farbe.

Zusätzliche Türen zum Reich des Unsichtbaren stießen die Neusüss-Schüler Ulf Saupe und Natalie Ital auf. Saupe verbindet Experimentierlust mit rationalem Kalkül. Er inszeniert seine Modelle auf einem mit Phosphorfarbe bemalten Untergrund. Nach der Belichtung erscheint für kurze Zeit ihr grünlich schimmerndes Nachbild. Auf dieses legt der Künstler Fotopapier. Anschließend belichtet er das Motiv abermals mit Laser oder anderen Lichtquellen. Das Ergebnis ist das fixierte Nachbild eines Schattens.

Ital wagt sich mit ihren wilden Farbfotogrammen in abenteuerliche Gefilde aus Fiktion, Träumen und Realitätsfragmenten. Ihre sprühenden Bilder im Rhythmus der Pop-Musik vergegenwärtigen die komplexen Erfahrungen und Empfindungen angesichts einer verwirrenden, unübersichtlichen Welt.

Seine künstlerische Antwort auf diese komplexe Welt setzt der Amerikaner John Schuetz am Leuchttisch zusammen. Aus Filmbildern, die er vorher für bestimmte Thematiken gezielt aufnimmt, schneidet er Bestandteile aus und montiert sie Schritt für Schritt zu autonomen "Transparencies".

Er bricht die starre Bildordnung der Fotografie auf, bedient sich der Kamera nur im Vorfeld seiner Arbeit und ersetzt die Monofokalität des Fotografischen durch die Multifokalität der Kunst. Keine Frage: der Blitz der Erkenntnis befördert an der Peripherie der Fotografie aufregende Bilder, die sich nicht in der Darstellung der sichtbaren Realität erschöpfen.

Quellengabe, Text: Prof. Klaus Honnef / LUMAS Berlin 2005



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